Arnulfs Revier

Bühne frei für Alleskönner: Blauer Montag im Tempodrom. Diesmal ist Kreuzberg dran

Vielleicht kann er gar nicht anders als originell sein. Man sitzt zusammen beim Bier im „Möckernstübel“, die Show ist vorbei und Arnulf Rating noch ein bisschen aufgekratzt: „Wenn man in diesem Land Menschen zum Lachen bringt, ist das ein sehr einträglicher Job. Besser als ein Arzt kann man davon leben.“ Fast alles, was Rating sagt, läuft auf solche Pointen hinaus. Er liebt die Zuspitzung, die Übertreibung, und natürlich liebt er es, wenn er andere Menschen zum Nachdenken und Lachen zugleich gebracht hat. Humor ist Aufklärung.

Er selbst lacht nie. Verkneift es sich einfach, schaut die Lachenden lieber mit seinen wasserblauen Augen an, zufrieden und ein bisschen streng. Nur um die Lippen zuckt es verräterisch. Ratings Platz ist die Bühne, selbst in der Kneipe.

Dass er mitteilsamer ist als gewöhnlich, mag auch daran liegen, dass er gerade zwei Stunden lang den Mund gehalten hat. Und das nun schon den 24. Montag in Folge. Denn seit Anfang des Jahres veranstaltet Rating den so genannten Blauen Montag im Tempodrom, im Juni ging die Veranstaltung mit einem großen Finale in die Sommerpause. Die Kleine Arena war rappelvoll, das Fernsehen filmte, und der in einen himmelblauen Anzug mit gelb- grauer Krawatte gekleidete Rating ließ das junge Jahr Revue passieren. So wie er das immer tut am Anfang seiner Show, er hält einfach die besten Schlagzeilen der Boulevard-Presse in die Höhe. Besonders gut kam diesmal die „Abendzeitung“ aus München an. Auf dem Titelblatt war Steuersünder Boris Becker hinter Gefängnisgitter fotomontiert, dazu die Überschrift „Ich bin drin“.

Man muss nur wollen

Rating selbst ist nach dieser Auftaktnummer erst mal „draußen“. Er ist beim Blauen Montag nur der Conferencier, der auf einem Sofa Platz nimmt, die Beine übereinander schlägt und ab und an eine spitze Bemerkung einwirft. Er, der drei Stunden lang ohne Punkt und Komma erzählen, schwafeln, schimpfen, witzeln und raunen kann, er überlässt die Bühne jetzt großzügig seinen Gästen: eine bunte Mischung professioneller Kabarettisten, Witzbolde, Sportler und Nachwuchskomödianten.

Die Qualität ihrer Darbietungen schwankt, was Rating ab und zu die Stirn in Falten werfen lässt. Wirklich tragisch ist das aber nicht, denn niemand darf die Bühne länger als sechs Minuten besetzen. Und irgendwie macht dieses Gefälle auch den Charme des Blauen Montags aus. Wenn da zwei klein gewachsene, muskelbepackte Brüder aus Pankow, die sich „Cosmic Artists“ nennen, Handstände und Überschläge machen und dann die Bühne für gestandene Komiker wie Gabi Decker oder den Blonden Emil räumen, wenn BMX-Akrobat Frank Wolf auf seinem Rad tänzelt, turnt, durch die Luft reitet und anschließend eine zwei Dutzend Mann starke Schwulen-Kapelle namens „Rosa Kavaliere“ ihre Liedchen in Knickerbockers trällert, wenn also all das auf ein und derselben Bühne Platz findet, ist Berlin gewissermaßen ganz bei sich.

So gesehen verlängert der Blaue Montag eine ureigene Berliner Varieté-Tradition, in der sich Kleinkunst und Hochkultur aufs merkwürdigste verschränken – auch wenn Rating den Begriff nicht mag, weil das Varieté vom Fernsehen in die kleinbürgerliche Beschränkung geritten worden sei. Er legt Wert auf die Feststellung, dass jeder Künstler vor seinem Auftritt durch seinen Qualitäts-Tüv muss: „Wir haben zwar einen Künstlerstau, aber wir wollen nicht in die Open-Stage-Falle tappen.“ Stattdessen schlägt der 52-Jährige die Definition „lebende Stadtzeitung“ vor. Eine Schande sei es, dass Köln als Comedy-Hochburg gelte, wo doch jeder, der irgendwie neben der Spur sei, früher oder später in die Hauptstadt komme: „Berlin hat hervorragende Wortkünstler. Es ist voll von Verrückten, die dürfen sich hier vorstellen.“

So funktioniert der Blaue Montag denn auch als Expedition durchs Stadtreich. Jeden Monat steht ein anderer Bezirk im Mittelpunkt, am morgigen Montag ist Kreuzberg dran. Die Bezirksfahne wird gehisst, die Hymne gesungen (ja, auch Lichterfelde hat eine eigene Hymne). Wenn ein Bezirk seine Fahne nicht rausrückt, wie es bei Pankow der Fall war, dann wird einfach die DDR-Flagge aufgezogen. Denn, so Rating, an der Bürokratie scheine sich ja nichts geändert zu haben. Als Ethnologe beschreibt sich der groß gewachsene Kahlkopf, als Feldforscher. In Berlin will er eine radikale Subjektivität ausgemacht haben, die in jedem Kiez andere Lebensformen hervorbringe: „Berlin ist ja nicht umsonst die Stadt mit den meisten Dorfkirchen der Welt.“

Berlins letzte Ressource

Ganz neu ist das Konzept des Blauen Montags indes nicht. Schon einmal, es war 1990, wagte es Rating, damals noch einer der „Drei Tornados“, im ehemaligen Quartier Latin den für Veranstalter schwierigsten aller Wochentage zu bespielen. „Für eine Varietévorführung suchen wir Kunstfurzer. Akrobaten bitte melden“, lautete die Annonce. Unzählige Sänger, Literaten und andere Hochseilartisten meldeten sich. „Die Abende waren außerordentlich gut besucht“, erinnert sich Rating, „und doch war nach neun Monaten Sense.“ Das Konzept hatte sich nicht gerechnet. Die Tornados mussten sämtliche Kosten des Abends – von der Künstlergage bis zum Licht – selbst aufbringen und wurden auch nicht mehr am Getränkeverkauf beteiligt, als die Rockgruppe BAP das Quartier Latin (jetzt „Wintergarten“) kaufte.

Heute stehe der Blaue Montag finanziell zwar besser dar, doch über etwas Zuwendung vom Senat würde man sich nicht beklagen, so Rating. Schließlich fördere man die einzige Ressource, die die Stadt noch habe: ihre Freaks und Alleskönner. Wie andere Kulturveranstalter wird der Blaue Montag daher von der Privatwirtschaft gesponsert. In den Saal wird das Logo des Fernsehsenders „Sat1“ projiziert, dessen Abteilung „Talents“ der wichtigste Partner des Blauen Montags ist. Am Eingang prangt ein Plakat von „Air Berlin“, dafür fliegt die Billigfluglinie jeden Montag einen Überraschungsgast aus London ein.

Mit dem Tempodrom ist Rating dennoch rundum zufrieden. Im wortwörtlichen Sinn: Die Kleine Arena ist rund wie ein griechisches Theater, die Zuschauer sitzen auf Stufen im Halbkreis um die Bühne. „Das ist die klassische Form der unverfälschten menschlichen Kommunikation“, begeistert sich Rating und nimmt einen letzten Schluck Bier. Dann wird er zum ersten Mal ernst an diesem Abend. „Vergiss man nicht darauf hinzuweisen, dass wir immer pünktlich anfangen.“ Pünktlich? „Es gibt ja noch Menschen, die Arbeit haben und früh rausmüssen.“

Philipp Lichterbeck

© Der Tagesspiegel, 31.08.2003